Die bösen, bösen «Raubkopierer» Dass die Musikindustrie nicht viel Freude findet an dieser Entwicklung, leuchtet soweit ein. Allerdings ist es auch zu einfach, überall das dafür extra erfundene Schlagwort «Raubkopie» und «illegaler Download» zu gebrauchen. Man überlege mal: Zum einen heisst es eigentlich «stehlen» – «rauben» hingegen beinhaltet auch immer noch einen Akt der Gewalt. Und zum anderen: stehlen kann man nur ein Original. Eine Kopie ist eine Kopie ist eine Kopie. Auch das Wort «Piraterie» wird oft für diese Sündenbockkonsumenten zweckentfremdet. Heruntergeladene Gratis-Downloads, also Daten, die frei verfügbar sind, können aber streng genommen gar nicht illegal sein. Wer dies bestreitet, hat das Wesen des Internets als anarchischer Superorganismus nicht verstanden.
Ja, aber die Nutzung! Schon klar, aber es genügt nicht, über irgendwelche in unverständlicher Juristensprache verfassten Lizenzen und unter Androhung von massiven Strafen den Leuten vorzuschreiben, was sie in ihren eigenen vier Wänden dürfen und was nicht. Das ist eine Beschneidung der Privatsphäre und funktioniert so nicht! Beziehungsweise es schafft automatisch auch starke Gegenpole und Anreize, diese Regelung zu umgehen. Vor allem, wenn die Bedingungen so unklar definiert sind wie im Bereich der Musikdownloads. Und erst recht dann, wenn der ehrliche Konsument derart verärgert ist, weil die CD, die er sich gerade gekauft hat, wegen des krassen Kopierschutzes in seinem Autoradio nicht läuft. Jedenfalls hat sich in jüngster Zeit die Musikindustrie mit dem ständigen Beschimpfen und Verunsichern der Konsumenten keinen guten Namen gemacht und wohl bei so manchem eher das Gegenteil erreicht. Vor allem hierzulande, denn viele Aussagen der Musikindustrie und Medien stimmen überhaupt nicht mit der tatsächlichen rechtlichen Situation überein. Im Filmbusiness wurde ebenfalls reagiert, als das Kopieren und Herunterladen von Filmen populär wurde. Wahnsinnig sympathisch: dort werden die «Raubkopierer» sogar als Verbrecher dargestellt. Diese Kampagnen liefen auch in unseren Kinos und sind auf hier erhältlichen DVDs drauf, jedoch eigentlich rechtswidrigerweise, denn das private Kopieren ist in der Schweiz seit jeher ausdrücklich erlaubt. Man muss sich jetzt mal die Unsicherheit des Konsumenten und auch daraus entstehende Trotzreaktionen vorstellen! Bravo! Super gemacht, liebe Industrie! Kein Dialog unter den Parteien Die Musikindustrie wird immer wieder mit diversen Vorwürfen belastet, die sie selbst als «Vorurteile» bezeichnet. Und ihrerseits wiederum den Gegnern Unseriosität, Kriminalität und Realitätsverkennung an den Kopf wirft. Die Fronten sind verhärtet. Schaut man sich beider Aussagen einmal an, lässt sich feststellen, dass auf beiden Seiten massive Überlegungsfehler gemacht und die jeweiligen Argumente oft deutlich überzeichnet werden. Ein Kindergarten. Auch der Industrie sollte soweit klar sein, dass eine Gegenbewegung als Ursache auch immer einen gewissen Unmut erfordert. Und den Gegnern sollte klar sein, dass sich seinerzeit auch schon die Hippies erfolglos gegen das «System» aufgelehnt hatten. Das einfachste wäre wohl, wenn alle Parteien vernünftig zusammenhocken, sich ausreden und des anderen Bedürfnisse anhören würden. Wird aber nicht gemacht. Schade. Denn ob all dem Gegacker stellt niemand die Frage: «Was wollen die Leute denn eigentlich?» oder «Wie könnten wir das Problem gemeinsam lösen?» Die Industrie wird nicht mehr benötigt Fakt ist: der Musikindustrie entgleitet mit dem allmählichen Verschwinden des Tonträgers ihre Existenzberechtigung. Denn jahrzehntelang waren nur professionelle Studios überhaupt fähig, Musik aufzunehmen, weiterzubearbeiten und anschliessend im Presswerk zu produzieren und herauszugeben.
Heutzutage können aber selbst mit einem Low-Budget-PC ganz passable Musikproduktionen und Bandaufnahmen erstellt werden. Der Rest ist Know-How und/oder ausprobieren. Und für die weltweite Publikation muss man auch nicht mehr bei einem Label unter Vertrag sein: ein YouTube-Video oder ein Homepage-Link genügen. Und das ist sogar gratis und ohne Verpflichtung. Ein weiterer Vorteil: die Beliebtheit eines Videos (= die Anzahl Klicks) ist hier sogar eine ziemlich direkte Rückmeldung, also quasi eine aussagekräftigere Hitparade als die offizielle. Gesättigter Bedarf Auf eine für Fr. 100.– erhältliche 2-Terabyte-Festplatte passen etwa 2 Millionen Minuten Musik von allerbester Hörqualität. Das entspricht einer fast vier Jahre dauernden 24-Stunden-Nonstop-Playlist, ohne dass ein einziger Song zweimal läuft. Das reicht für mehr als das ganze Leben; es ist sogar praktisch unmöglich, das alles wenigstens einmal durchzuhören. Und das ist nur ein Bruchteil der im Internet verfügbaren Musik. Der Bedarf an neuen Tonträgern ist rein mengenmässig also schon längst gesättigt. Keine Bewegungen mehr Der Musikindustrie sind die Neuheiten ausgegangen. Musikstile haben sich immer schon verändert und sind eine Mischung zwischen der regionalen Kultur, den persönlichen Bedürfnissen und den verfügbaren Instrumenten. Im 20. Jahrhundert nahm, auch dank der globalen Verbreitung der Musik durch die Industrie, die Vielfalt an Stilen rasant zu. Vor allem aber auch dank der immer grösser werdenden Palette an Instrumenten und dem einfacheren Zugang dazu. Dies hat zu einem regelrechten «Stilmarathon» geführt. Und zu sehr viel Umsatz für die Industrie, denn ein neuer Stil bedeutete immer auch neues, zusätzliches Zielpublikum. Seit den Nachkriegsjahren war lange Zeit Musik und der entsprechende Stil eine Ausdrucksform der verschiedenen Jugendbewegungen und der einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen der letzten hundert Jahre. Dies hat der Industrie einen riesigen Aufschwung verliehen, ja war sogar der Hauptmotor. Diese «Jugendbewegungen» gab es davor übrigens nicht. Und gibt es auch heute nicht mehr: die verschiedenen Ausdrucksformen Jugendlicher haben sich schon längst untereinander vermischt und sind nicht mehr an soziale Herkunft oder Situationen gebunden. Es lässt sich keine eigentliche Bewegung mehr erkennen. Keine neuen Stilrichtungen mehr Real hatte die Diversität ihren Höhepunkt in den Neunzigerjahren. Die neuen Möglichkeiten der elektronischen Musik setzten den inzwischen zahlreichen Formen des Blues und Rock’n’Roll den Deckel auf und beendeten vorläufig das Rennen um die immer neuen Musikstile. Die letzte grosse Neuerung, wo auch noch eine echte Bewegung die treibende Kraft war, hiess Techno. Mit den vielfältigen musikalischen Variationen dazu. Die Technobewegung war aber anders als die vorhergehenden, eher rebellischen und auflehnenden Bewegungen: sie propagierten Liebe und Toleranz! Und setzten damit einen doch ganz versöhnlichen Abschluss, denn mit dem Ende des Jahrtausends endete auch die Technobewegung und damit die Jugendbewegungen überhaupt. Und was ist mit all den Neuerungen seither? Es sind keine. Es sind Abwandlungen, Kopien, Kombinationen und Varianten bestehender Musik. Natürlich entsteht dadurch auch immer wieder etwas Neues, und die Unendlichkeit von Kreativität ist ja auch das Fantastische an der Musik. Aber im Mainstream sind keine prägenden musikalischen «Revolutionen» mehr geschehen seither. Alles schon vorhanden Zudem hat jedermann heute praktisch uneingeschränkten Zugang auf sämtliche Musikformen, die seit der Erfindung des Tonträgers entstanden sind. Die verschiedenen Musikrichtungen sind nur einen Fingertouch entfernt und ständig abrufbar. Was dazu führt, dass beispielsweise heutige Jugendliche gar nicht mehr immer nur nach Neuem lechzen, sondern sich auch mal etwas Vergangenes anhören. Dies ist neu; davor war die Musik auch immer ein Weg, sich von der Erwachsenengesellschaft abzugrenzen. Dieselbe Musik zu hören wie die Eltern, war jahrzehntelang ein No-Go! Dieser Graben ist heute jedoch entschärft, und Konflikte finden wohl noch immer statt, aber sie entladen sich nicht mehr zwingend über Produkte der Musikindustrie. Die uneingeschränkte Verfügbarkeit der Musikrichtungen lässt einen auch alles finden, was man benötigt: für jede Lebenslage, für jeden Stil, für jede Emotion. Dadurch wird die Nachfrage an Neuheiten ebenfalls stark geschwächt. Pseudo-Neuheiten Dies alles ist ein Desaster für die Musikindustrie und verstärkt den Effekt des verschwindenden Tonträgers dramatisch. Als Gegenreaktion werden nach wie vor «Neuerungen» auf den Markt gebracht und auch fulminant als solche angepriesen, die aber keine sind. Zwar sind es neue Namen von Künstlern und Bands, aber die meiste «neue» Musik hat man so oder leicht anders doch schon mal gehört. Das Tempo, mit dem neue Musikstile bis in die Neunzigerjahre herausgebracht wurden, wird künstlich aufrechterhalten, um den Absatz zu gewährleisten. Fürschi, fürschi. Keine Qualitätsverbesserungen mehr Nebst der musikalischen Neuerungen konnten die Musikindustrie und damit verbunden auch die Hersteller von Geräten jahrzehntelang immer wieder überraschen mit Verbesserungen der Soundqualität. Bei der Produktion, beim Medium und bei der Wiedergabe. Die maximale nötige Qualität für das menschliche Hörvermögen war mit dem Audio-CD-Standard Anfangs der Achtzigerjahre erreicht. Danach folgten nur noch Verbesserungen bei Aufnahme- und Wiedergabegeräten, welche aber ebenfalls bald erreicht waren und nun nur noch günstiger werden konnten. Die Elektronikindustrie hat seither neue Nischen gefunden, beispielsweise das 5.1-SurroundSystem und eine Vielzahl von MP3-Playern, um dem aufkommenden Format gerecht zu werden. Nicht so die Musikindustrie: sie konnte bezüglich Qualität in den letzten zwanzig Jahren mit keinen nennenswerten Verbesserungen aufwarten, da es eben gar nichts mehr zu verbessern gab. Dieses fehlende Argument trägt ebenfalls zur Umsatzeinbusse bei. Das einzige, was diesbezüglich noch gemacht wird: es werden uralte Aufnahmen aufgearbeitet, neu gemastert, und mit entsprechend grosser Ankündigung nochmals auf den Markt gebracht. Doch auch das lutscht sich dann natürlich irgendwann aus. Keine Qualität mehr Natürlich, die Hauptumsatzzielgruppe ist der Mainstream, keine Frage. Und hier ist Erfolg heute hauptsächlich eine Frage des geschickten Marketings. Audiophile Hörer, die ein Vermögen für eine HiFi-Anlage ausgeben, sind eine Nischenpublikum, ganz klar. Doch etwas sollte nicht vergessen werden: im direkten Vergleich zu Mainstream-Teenies hat dieses Publikum zwei riesige Vorteile. Erstens sind sie ihren Künstlern oder ihrem Stil meistens lange Jahre treu. Und zweitens haben sie Geld. Das sie auch sehr gerne und manchmal scheinbar unlimitiert ausgeben für neue Releases ihrer Lieblingsbands oder ihres Lieblingsdirigenten. Schliesslich möchte man ja auf dem hochwertigen Masselaufwerk nur die beste Scheibe auflegen. Ein CD-Player? Nein, der Schallplattenspieler ist gemeint. Gibts denn noch viele Vinylalben? Nein, nur noch ganz wenige. Wenn nicht mehr viele Vinylalben erhältlich sind, wofür geben die HiFi-Freunde dann heutzutage Geld aus? Für den Plattenspieler. Na gut, wenn die Plattenfreunde als relevantes Zielpublikum der Industrie nicht mehr in Frage kommen, es gibt ja auch sicher viele CD-Fans, die Wert auf Qualität legen und dafür viel Geld ausgeben? Ja, doch genau diese stören sich an der Kompression und am Clipping, das bei heutigen Produktionen immer häufiger und immer stärker angewendet wird (siehe «Loudness war»). Heute wird vor allem schnell produziert. Und billig. Dass hierbei nicht nur die rein technische, sondern auch die hörbare Qualität leidet, stört die Industrie nicht, solange die Kasse stimmt. Und bei einem Einfranken-Smartphone hört man das Clipping ja schliesslich auch nicht so deutlich wie bei einer zwanzigtausendfränkigen Stereoanlage. Womit auch hier wieder erwähnt wäre, wo das Geld hingeflossen ist – anstatt in die Kassen der grossen Labels. Was bewegte die Major-Industrie zur Vernachlässigung dieser Kunden? Ignoranz? Arroganz? Dummheit? Man weiss es nicht. Aber eins ist klar: dieses Zielpublikum ist verloren. Das treuste und zahlungskräftigste. Vielleicht war es doch einfach nur Dummheit. Videozug verpasst Als die Musikindustrie 2003 mit ihrem Angebot online ging, hagelte es an Kritik, dieser Einstieg ins digitale Zeitalter sei viel zu spät unternommen worden. Kann sein. Wenn, dann hatte dies allerdings nur kurzfristige Einbussen zur Folge, denn die Industrie hat sehr schnell aufgeholt in diesem Bereich. Die Zuwachsahlen von online verfügbarer und verkaufter Musik explodierten geradezu und erreichten nach wenigen Jahren ein dem bisherigen Markt ebenbürtiges Niveau.
Doch ein wichtiger Zug, den die Industrie zwar gebaut hatte, aber vergass einzusteigen, war der Bereich Musikvideo. Ab Ende der Achtzigerjahre war ein attraktives Video zu einem potenziellen Hit Pflicht geworden. MTV und später VIVA wurden in den Neunzigern neben dem klassischen Radio zum Hauptwerbemedium der Musikindustrie, und für deren Produktion wurden riesige Summen ausgegeben. Egal, ob Nischenmusik oder Mainstream, ein Song ohne Video war quasi blutt. Doch genau da lag und liegt auch heute noch das Problem: ein Musikvideo galt in der Augen der Industrie immer als Promotion, als ein reiner «Werbeträger» für den Song, nicht als erhältliches Produkt. Obwohl für ein Video zigfach höhere Kosten aufgewändet wurden als für die Produktion einer CD, musste dann der reine CD-Verkauf alles wieder einspielen. Die Videos aber konnte man nicht kaufen. Das einzige, was dann irgendwann aufkam, waren sinnlos überteuerte Musik-DVDs; allerdings zumeist nur Info-Dokus oder Live-Konzerte einer einzelnen Band, mit manchmal dem Videoclip als Zückerli drauf. Doch wer kauft sich so was? Nur die wenigen eingefleischten Fans. Einzelne Bands begannen dann zwar, zur normalen Audio-CD dem Album noch eine DVD beizulegen, blieben aber damit die grosse Ausnahme.
Ein fataler Fehler der Musikindustrie. Sie hätte Millionen verdienen können, wenn sie das Medium Video nicht nur als Werbung für Audio angeboten hätte. Die Videoclips erreichten damals sehr schnell riesige Beliebtheit; schliesslich waren sie Ausdruck einer neuen Kreativität und neuer technischer Effekte und Möglichkeiten, und entsprechend oft viel origineller als der Song selbst. Viele Clips schaute man sich nicht wegen der Songs an. Doch man war der Sendesouveränität der Musiksender ausgeliefert. Klar konnte man auf gut Glück den Videorekorder laufen lassen, aber sie dann zurechtzuschneiden ohne teures Equipment und deutlichen